• Warum sich auch unspektakuläre Orte lohnen

    Normalerweise sind es die touristischen Highlights, die uns in ein Land ziehen. In Marokko sind das Orte wie Marrakesch mit seinem einzigartigen orientalischen Flair im Schatten des Atlasgebirges oder Essaouira mit seinen Festungsmauern, die dem wilden Atlantik trotzen. Orte, die man einfach nicht verpassen darf. Und dennoch hatten wir unser spannendstes Erlebnis in einer Gegend, in die sich sonst kaum ein Tourist verirrt.

    marokko camper am see„Man kann auch unbelästigt direkt am Seeufer wild campen“, schreibt unser (zugegeben veralteter) Reiseführer über den kleinen Kratersee Dayet er-Roumi, der sich knapp hundert Kilometer östlich von Marokkos Hauptstadt Rabat befindet. Klingt idyllisch, klingt nach Ruhe, klingt genau nach dem, was wir gerade brauchen, denken wir und fahren hin. Uns empfängt ein netter Badesee, der aufgrund der frühlingshaften Temperaturen aber nur zum Picknicken einlädt. Ein paar marokkanische Familien haben es sich am Ufer bequem gemacht, trinken Tee, waschen ihr Auto oder spielen Fußball. Wir gesellen uns dazu und es dauert nicht lange, bis Elena eine neue Freundin zum Spielen findet. Während die Sonne hinter dem See versinkt, packt unser Nachbar seine Gitarre aus und begleitet das Schauspiel mit einer marokkanischen Version von Julio Iglesias. Ein unspektakulärer, schöner Tag neigt sich dem Ende.

    Wir legen Elena in der Alkove unseres Campers schlafen und freuen uns auf einen Abend nur für uns. Ich hole den Curryreis von gestern aus dem Kühlschrank, da klopft es an der Tür: „Bonsoir, you want to stay for the night?“, fragt mich der marokkanische Julio Iglesias freundlich. Anschließend warnt er uns: „Is dangerous here!

    Neben ihm ein zweiter Herr, der Regierungsbeamter sei und uns für die Nacht auf seinen Hof einlädt. „The government will care for you. Is more safe!“, empfiehlt uns Julio nachdrücklich. Ich überlege: Es fühlt sich hier nicht gefährlich an, aber man kann ja nie wissen. Also holen wir die schlafende Elena aus dem Bett, verstauen unser Curry im Kühlschrank und folgen dem Regierungsbeamten, der auf seinem Roller durch die Dunkelheit knattert. Über Stock und Stein holpern wir einen Hügel hinauf, durch ein ausgetrocknetes Flussbett und landen schließlich auf einem kleinen Hof. Ich liebe es einfach, dass man auf Reisen nie weiß, was noch passiert.

    Während Anke im Camper bleibt, um Elena wieder schlafen zu legen, springe ich hinaus auf den lehmigen Boden. Ich möchte mich bei unserem Gastgeber bedanken, doch er versteht kein Französisch. Und ich kein Arabisch. Mit Gesten versuchen wir zu kommunizieren, während hinter uns die Esel blöken, die Kühe aus dem Stall muhen und die Hühner zwischen meinen Beinen hindurch rennen. Aus dem kleinen Steinhaus tritt inzwischen eine Frau mit Kopftuch auf mich zu. Während ich mich frage, wie ich sie begrüßen soll, reicht sie mir bereits die Hand. Mit einladender Geste bittet sie mich ins Haus, sie wolle für uns kochen. Ihr Mann, der Regierungsbeamte, zeigt auf ein Hühnchen und bewegt seine Hand zum Mund. Wie komme ich aus dieser Situation, ohne unfreundlich zu sein? Ich versuche auf unser schlafendes Baby zu verweisen. Sie verstehen nicht. Ich zücke mein Handy und versuche es mit Google Translate. Es klappt ein bisschen und ich kann sie auf ein Frühstück am nächsten Morgen vertrösten.

    Mit dem Vorsatz, mich über das korrekte Verhalten gegenüber islamischen Familien zu informieren, steige ich zurück in den Camper. Elena schläft. Gott sei Dank. Doch Anke schaut mich mit ihrem „Dass Du uns immer in so komische Situationen bringen musst“-Blick an, den ich für einen kurzen Augenblick genieße. Dann hole ich das Curry aus dem Kühlschrank. Die Gasflamme ist gerade entzündet, da dringen Stimmen durch die geschlossenen Rollladen. Ob die Nachbarn gucken kommen, wer sich hier eingefunden hat?, frage ich mich. Als es keine Minute später an der Tür klopft, bekomme ich meine Antwort. Zwei uniformierte Polizisten schauen mich streng an. Im Hintergrund unser Regierungsbeamter, dessen Blick ich nicht deuten kann.

    Ich steige aus und beantworte geduldig die Fragen der Uniformierten. Von wo kommen wir? Wo wollen wir hin? Wann sind wir eingereist? Alle Informationen aus unseren Pässen werden notiert. Schließlich der erleichternde Moment. „Pas de probleme, merci.“ Kein Problem, alles gut. Aber wir sollen direkt nach dem Frühstück abreisen. Zum Glück weiß die Polizei jetzt, wo wir sind. Falls heut Nacht noch irgendetwas passiert.

    marokko camper bauernhofDoch die Nacht bleibt ruhig, bis auf die bellenden, blökenden, muhenden und gurrenden Laute der Umgebung. Am Morgen werden wir herzlichst ins Haus gebeten. Natürlich ziehen wir – ich habe alles nachgelesen – die Schuhe an der Schwelle aus und haben kleine Gastgeschenke im Gepäck. Nivea Creme für die Frau, ein Taschenmesser für den Mann und Buntstifte für die beiden Kinder. Neugierig betreten wir das Wohnzimmer und setzen uns um einen kniehohen Tisch auf den Teppichboden. Der Raum ist fast leer. Lediglich ein Portrait des Königs ziert eine Wand und ein kleiner Schrank schmiegt sich in eine Ecke. Minimalismus pur. Umso größer die Gastfreundlichkeit der Familie. Wir bekommen einen würzigen Tee mit Milch serviert, der mich stark an den geliebten Masala Tee aus Indien erinnert. Mhmmm! Kleine Gläser füllen sich mit dem typisch marokkanischen Minztee, der aus gut einem halben Meter Höhe ausgegossen wird. Wunderbar! Dazu erhalten wir kleine, bunte Keramiktassen mit Milch, die so traumhaft gut schmeckt, dass ich mich frage, ob ich noch träume. Unser Gastgeber gestikuliert und ich verstehe ihn eindeutig: Frisch gemolken. Der Wahnsinn! Als seine Frau meinen Blick sieht, verschwindet sie in der Küche und kehrt mit einer großen Tasse zurück – bis oben hin gefüllt mit noch mehr frischer Kuhmilch. Ich höre mich fast in Dauerschleife Shukran sagen – Danke!

    Neben den köstlichen Getränken wird warmes Fladenbrot serviert, das in der Pfanne gebacken wurde. Aufgrund des unbeholfenen Verhaltens der Kinder mit der Butter vermute ich, dass diese speziell für uns Gäste auf den Tisch kommt. Umso geübter stellen sich die beiden mit der sirupartigen Marmelade an, in die sie das Brot mit ihren Fingern dippen. Gerne mache ich es ihnen nach und genieße dieses einzigartige Frühstück.

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    Die vierjährige Imei hat sich inzwischen hinter Elena gesetzt und tätschelt sie wie ihre Lieblingspuppe. Elena gefällt’s. Unser Gastgeber ist unterdessen in sein Smartphone vertieft, das in regelmäßigen Abständen einen Whatsapp-Ton sendet. Immerhin das ist vertraut von Zuhause, auch wenn es in diesem leeren Wohnzimmer doch etwas unwirklich anmutet.

    Wir schießen noch ein Gruppenfoto, verabschieden uns herzlich von der Familie und holpern schließlich über die Buckelpiste davon. Sprachlos sitze ich hinterm Lenkrad und versuche dieses Erlebnis zu verarbeiten. Es bleibt eine Bewunderung für die uneingeschränkte Gastfreundlichkeit, die in Marokko tief verwurzelt ist. Und ich erkenne, dass es sich lohnen kann, unspektakuläre Orte zu bereisen.

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8 Kommentare:

  1. Marion Seiler sagt:

    Hallo ihr Weltreisenden, es ist immer wieder schön, eure zauberhaften und sehr schön geschriebenen Reiseberichte zu lesen. Weiter so! Wir reisen in Gedanken mit euch.
    Manchmal muss man einfach mal etwas Neues ausprobieren. Das ging uns genauso, als wir unseren Wohnort gewechselt haben. Es kommt immer wieder etwas Neues, ob gut oder nicht, es macht das Leben spannend.

    Aus Bamberg liebe Grüße, passt auf euch auf,
    Marion und Wulff

    • Robs sagt:

      Hallo Marion und Wulff,
      vielen Dank für Euer Lob! Ja, so eine Veränderung tut wirklich gut. Interessanterweise scheinen die Auswanderer und Alternativ-Lebenden, die wir so unterwegs treffen, ihre Entscheidung auch nicht zu bereuen. Es klappt zwar nicht immer so wie man es plant…, aber irgendwie ergeben sich dann neue Möglichkeiten. Auf jeden Fall macht es das Leben spannend, da hast Du recht!
      Wir wünschen Euch alles Liebe und dass ihr Euch in der neuen Heimat gut einleben könnt!

  2. Christina sagt:

    Hey,
    total schön geschrieben. Hab kurz auch mitgefiebert, ob vielleicht doch noch was passiert, man weiß ja wirklich nie und wenn dann noch die Polizei kommt…
    Auf jeden Fall eine sehr tolle Geschichte 🙂
    Viele Grüße
    Christina

    • Robs sagt:

      Hallo Christina,
      ich freue mich sehr, dass wir Dich mit unserem Artikel so mitnehmen konnten. Vielleicht ist ja dann auch unser Reiseroman „Reismomente“ etwas für Dich?
      Liebe Grüße von der marokkanischen Atlantikküste

  3. Hallo ihr Beiden,

    Das ist ein unheimlich sympatischer Artikel. Ich freue mich, dass ihr so tiefe Einblicke in das Leben der Menschen bekommen habt. Für mich ist das die schönste Form des Reisens und ich habe schon während der Schulzeit genossen bei Gastfamilien zu wohnen. Man bekommt so einfach richtig herzliche und tiefe Einblicke und erlebt Sachen fernab von Touristenpfaden.

    Viele Grüße, Anja

    • Robs sagt:

      Hallo Anja, lieben Dank! Echt schön, dass Du bereits zu Deiner Schulzeit mit dem Reisen und Eintauchen in fremde Kulturen begonnen hast. Ich finde, man kann dabei so unglaublich viel für sein eigenes Leben lernen und nimmt doch viele positiven Erinnerungen aus den Begegnungen mit.
      Alles Liebe,
      Robs

  4. Anonym sagt:

    Liebe reisende Bären!
    Mal wieder ein sehr interessanter, wunderbarer Artikel. Mal wieder bewundere und beneide ich Sie aufrichtig für den Mut, die Leichtigkeit und die Unbekümmertheit, mit der Sie die Welt entdecken. Und mal wieder beneide ich Sie für das Glück, das Ihnen scheinbar immer schöne oder zumindest interessante und spannende, jedoch nie wirklich gefährliche oder unschöne Erlebnisse beschert. Möge es Ihnen stets hold sein!

    Weiterhin ganz ganz viel Erfolg, Spaß, Lebensfreude, spannende, schöne und erfüllende Momente beim Entdecken der Welt! Das wünsche ich Ihnen von Herzen!

    Dennoch möchte ich bei der Gelegenheit noch ein altes chinesisches Sprichwort zitieren, das mir vor kurzem begegnete, und bei dem ich direkt an Sie denken musste:

    Wer das Glück nur in der Ferne sucht
    Der hat sein Leben selbst verflucht

    Bei allem Fernweh darfst du du nicht übersehn
    Ferne ist nie dort wo wir gerade stehn

    (Ok, ist in wirklichkeit aus einem Songtext)

    In diesem Sinne:
    Cherish home and family as a treasure!

    Beste Grüße(auch von meiner Frau)
    A. Nym

  5. […] hätten wir stutzig werden sollen… Denn es begann wie beim letzten Mal: Ein See. Mit dem Camper am Ufer übernachten. Frei stehen. Erneut wurde es ein unvergessliches […]

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