Es sieht ein wenig aus wie in Deutschland zur Adventszeit, denke ich, während unser Taxi über den unebenen Asphalt hüpft. Die Hausfassaden zu beiden Seiten der Fahrbahn sind mit unzähligen Lichterketten geschmückt, die in den buntesten Farben erstrahlen. In den Fenstern flackern Kerzen um die Wette. In Indien wird ab heute Diwali gefeiert, das Lichterfest. Doch was bedeutet das eigentlich genau?, frage ich mich und wende mich an meine Frau Anke, die ebenfalls fasziniert durch das leicht schmierige Taxifenster schaut.
»Gute Frage. Ich habe keine Ahnung«, antwortet sie und ich erkundige mich höflich bei unserem Fahrer.
In gebrochenem Englisch erklärt er uns den Hintergrund aus einem Helden-Epos namens Ramayana. Er handelt von Prinz Rama, der die schöne Sita zur Frau nahm. Diese wurde jedoch von einem Dämon nach Sri Lanka entführt, sodass Rama in eine große Schlacht zog. Er besiegte den Dämon und brachte seine Frau in einer dunklen Nacht nach Indien zurück. Ihr Heimweg wurde dabei von zahlreichen Öllampen erleuchtet, nach deren Vorbild heute das Lichterfest gefeiert wird.
Wir danken unserem Fahrer für seine Erzählung, mit der die Fahrt sehr schnell vergangen ist. Er biegt bereits in unsere Zielstraße ab, den Main Bazar.
Schlagartig ist es voll. Bunt. Laut. Menschen drängen sich eng an unserem Auto vorbei. Wir kommen nur noch im Schneckentempo voran. Überladene Tuktuks versuchen, einen Weg durch die Massen zu finden. Hunde rennen kläffend umher. Händler stehen schreiend hinter ihren Ständen. Es riecht nach Gewürzen, nach unbekanntem Essen.
Plötzlich hämmern mehrere Inder mit ihren Fäusten an unser Fenster. Sie rufen »Happy diwali!« und verschwinden tanzend zurück in dieser organischen, bunten Masse. Eine Kuh schaut kauend durch unsere Windschutzscheibe. Unser Wagen bleibt vor ihr stehen. Frauen in hübschen Saris werfen uns neugierige Blicke zu. Diese Farben! Neben uns wird eine Rakete gezündet. Ein Blitz erhellt die Umgebung, und die Explosion schallt laut in der engen Häuserschlucht.
Wo sind wir hier?
Hallo Kulturschock!
Irgendwie gelingt es unserem Fahrer, in dieser unbeschreiblichen Masse langsam vorwärts zu rollen. Dann hält er unerwartet an, zeigt in eine menschenleere Seitengasse und ruft »Wir sind da!«. Wir steigen aus unserem sicheren Gefährt hinaus in den Wahnsinn. Ich ziehe den Rucksack auf und gebe dem Fahrer 100 Rupien Trinkgeld, die er undankbar annimmt. War wohl zu wenig? Sollte ein Euro hier nicht viel wert sein? Egal, einfach ins Hotel.
Über eine Schotterpiste stolpern wir immer geradeaus. Die Straßenlaternen tauchen alles in ein fahles Licht. Am Boden liegen Zeitungen verstreut, ein Autoreifen gammelt vor sich hin. Am Ende der Gasse erblicke ich tatsächlich den Namen unseres Hotels. Wir sind am Ziel!
An der Rezeption werden wir mit einem freundlichen »Happy diwali« und einem rostigen Schlüssel empfangen. Lachend schließen wir damit ein billiges Vorhängeschloss auf, das vor der Tür unseres Zimmers baumelt. Sehr sicher wirkt das nicht gerade, denke ich und trete erschöpft ein. Im Inneren erwartet uns das dreckigste Loch, das ich je gesehen habe. Das Doppelstockbett wirkt frisch bezogen, doch der Stoff ist übersät von gelblichen Flecken. Beim Blick ins Bad frage ich mich, ob wir nach dem Duschen nicht schmutziger sein werden als vorher. Herumlaufen ohne Flipflops ist undenkbar, ebenso das Ablegen von Gegenständen auf den schmierigen Möbeln. Ich versuche nach draußen zu sehen, doch die Fensterscheibe ist mit einem ölig-staubigen Film überzogen. So sieht also ein indisches Mittelklassezimmer aus? Daran muss ich mich erst noch gewöhnen!
Mein Magen knurrt unterdessen um Aufmerksamkeit. Der Hühnerreis aus dem Flugzeug ist bereits verdaut, und so zieht es uns in das hauseigene Restaurant. Mal sehen, ob die Küche einen besseren Eindruck hinterlässt als das Zimmer, denke ich skeptisch.
Wir betreten die Dachterrasse und werden positiv überrascht: Vor uns breitet sich ein kleiner, ansprechender Platz aus. Fünf metallene Bistrotische warten mit jeweils zwei kleinen Stühlen auf Gäste. Erschlagen setzen wir uns direkt ans Geländer und lassen unsere Blicke schweifen. Unter uns erstreckt sich der Schotterweg, auf dem ein Junge gerade Frittiertes aus seinem Wok verkauft. Hinter einer hohen Mauer erblicken wir den Hof einer Koranschule, wo eine Horde Jungs – alle mit weißer Mütze geschmückt – gerade eine Gebetszeremonie einstudiert. Sie winken mir freudig zu, als sie meinen neugierigen Blick erhaschen.
Ich erschrecke, als plötzlich ein lautes Zischen vom Nachbardach zu hören ist. Funken tanzen wild umher, und drei Kinder springen mit einem herzhaften Schrei in Sicherheit. Ihre Mutter, die von Kopf bis Fuß in elegante Seide gehüllt ist, lehnt am Geländer und macht lachend ein Foto mit dem Handy. Hinter ihr sehe ich den Nachthimmel, der von Feuerwerk erleuchtet wird. Raketen steigen in die Luft und explodieren pausenlos in schönsten Formen und Farben. Es ist erst zwanzig Uhr, und die Inder scheinen gerade in Gang zu kommen, denn es wird lauter und lauter. Fasziniert sitzen Anke und ich an unserem runden Bistrotisch, während vor uns eine Kulisse tobt wie in deutschen Großstädten an Silvester um Mitternacht.
Zwei Schälchen Linsencurry und eine große Portion Reis landen schließlich auf unserem Tisch. Schmeckt okay, finde ich. Aber bei diesem Spektakel kann ich mich sowieso nicht darauf konzentrieren. Auch Anke probiert nur hin und wieder einen Löffel – viel zu sehr ist sie in das Schauspiel um uns herum vertieft.
Nach dem Essen fühlen wir, wie unsere Kräfte zurückkehren. Wir beschließen, uns noch einmal ins Getümmel auf dem Main Bazar zu werfen und ein paar Fotos von diesem rauschenden Fest zu schießen.
Der schmale Weg vor dem Hotel ist menschenleer, bis auf den Jungen, der noch immer hinter seinem Wok steht. »Aloo! Aloo!«, ruft er lautstark in unsere Richtung. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick in sein gusseisernes Gefäß. Frittierte Kartoffeln lachen mich daraus an. Sie sehen besser aus als unser Curry, denke ich erstaunt, traue mich aber dennoch nicht, eine zu probieren. Mein Magen wird es mir hoffentlich danken.
Die Hauptstraße ist seit unserer Ankunft deutlich leerer geworden. Ich erkenne Geschäfte, die vom Dach bis zum Erdgeschoss mit Lichterketten überzogen sind. Es wird überall gezündelt. Die Explosionen von Böllern ertönen wie entfernte Raketeneinschläge. Ich habe zum Glück nie einen Krieg miterleben müssen, dennoch fühle ich mich wie in einer tobenden Schlacht.
Plötzlich spüre ich, dass neben uns etwas passiert. Ein paar Inder rennen fluchtartig davon. Ein Schrei ertönt. Wie in Zeitlupe sehe ich den Grund über den staubigen Boden rollen: ein riesiger Böller. Er explodiert mit einer unglaublichen Wucht. Die Lautstärke zerreißt mich…
Und dann höre ich nichts mehr.
Totale Stille.
Es folgt ein schrilles Pfeifen.
Nur langsam kehren die Geräusche zurück, erst dumpf, dann immer klarer.
Es ist genau wie in einem Computerspiel, wenn eine Handgranate direkt neben mir einschlägt, denke ich fasziniert. Nur in echt! Es ist unglaublich!
Ich schaue Anke an. »Wir haben genug gesehen, oder?«
Sie nickt und zeigt in die Richtung unseres Hotels. Gedämpft höre ich ihre Antwort: »Ja, zurück zur Dachterrasse!«
Von dieser beobachten wir das Schauspiel aus sicherer Entfernung. Wir lachen über diesen skurrilen ersten Abend, den wir nicht greifen oder in Worte fassen können. Unser Gehör haben wir wieder, aber dafür sind wir sprachlos. Überfordert. Erschlagen. Und glücklich. Glücklich, wieder auf Reisen zu sein. Eine besondere Emotion macht sich in mir breit. Ich fühle mich auf eine Weise lebendig, wie ich es zu Hause nicht sein kann. Ich schaue zu Anke hinüber. Das Feuerwerk spiegelt sich in ihren Augen. Sie sieht erschöpft und erfüllt zugleich aus. Ein Lächeln steht in ihrem Gesicht, als fühle sie dasselbe wie ich. Bis weit nach Mitternacht sitzen wir hier – und staunen. Incredible India!